Seit drei Wochen ertönt an der Oberstufe Steig jeden Tag zu einer ungewohnten Zeit ein akustisches Signal. Kurz nach neun Uhr werden für einige Sekunden musikalische Klänge abgespielt, aber es wird nicht laut. Alle legen ihre Berufswahlunterlagen weg, schliessen das Englisch-Lehrmittel, brechen die Debatte im Deutsch ab, halten den Film über die Klimazonen an, wechseln vom französischen Wortschatz in die deutsche Literatur und tauschen den Zirkel oder das Geodreieck gegen ein Buch ein. Die Jugendlichen lesen einen Roman, Mangas, eine Zeitung, einen Comic oder einen packenden Krimi.
«Silence, on lit» bedeutet: Ruhe, wir lesen. Die Oberstufe nimmt sich im Dezember und Januar gemeinsam jeden Tag eine Viertelstunde Zeit für individuellen Lesestoff. Die Betriebsamkeit des Alltags hält für fünfzehn Minuten inne und es wird ganz still. Die einen bleiben an ihrem Arbeitsplatz sitzen, andere suchen die Wärme in der Nähe eines Heizkörpers. Der Schulsozialarbeiter sucht für die Leseviertelstunde einen Sessel im Flur auf und der Schulleiter unterbricht eine Besprechung. Für die Auswahl der Lektüre gibt es kaum Einschränkungen, das Leseverständnis wird nicht geprüft. Lesen wird zu einem intensiven, gemeinsamen und aufgrund der Gleichzeitigkeit eindrücklichen Erlebnis, das in einem starken Kontrast zu unserem hektischen und schnelllebigen Alltag steht. Als angenehmer Nebeneffekt wird die Lesekompetenz gefördert.
Die Idee dafür ist an einem Gymnasium in Ankara entstanden. Jugendliche, Lehrpersonen und überhaupt alle, die an der Schule angestellt sind, machen seit bald zwanzig Jahren jeden Tag für eine Viertelstunde eine Arbeitspause und lesen in einem Buch ihrer Wahl. Vor einiger Zeit hat sich das Projekt «Silence, on lit» in der Romandie etabliert und auch an der Oberstufe im Rorschacherberg wird das Konzept seit mehreren Jahren mit Überzeugung erfolgreich umgesetzt. Auf die Frage, was sie von «Silence, on lit» halten, antworten zwei Schülerinnen: «Das Leseprojekt gefällt uns sehr gut, denn obwohl es ganz still ist, entsteht ein starkes Gefühl der Gemeinschaft.»